Michel Foucault, Vorlesung 17. 3. 1976
Von der Souveränitätsmacht zur Macht über das Leben. – Leben machen und sterben lassen. – Vom Körpermenschen zum Gattungsmenschen: Geburt der Bio-Macht. – Anwendungsfelder der Bio-Macht. – Die Bevölkerung. – Vom Tod und jenem von Franco im besonderen. – Äußerungen der Disziplin und der Regulierung: die Arbeiterstadt, die Sexualität, die Norm. – Biomacht und Rassismus. – Funktionen und Anwendungsbereiche des Rassimus. – Der Nazismus. – Der Sozialismus.
Ich werde versuchen, das von mir in diesem Jahr Vorgetragene zu Ende zu bringen und ein wenig abzurunden. Ich habe den Versuch unternommen, das Problem des Krieges ein wenig näher zu beleuchten und als Raster des Erkennens historischer Prozesse in Augenschein zu nehmen. Es schien mir, als sei der Krieg anfänglich und praktisch noch während des gesamten 18. Jahrhunderts als Rassenkrieg gedacht worden. Diese Geschichte des Rassenkrieges wollte ich mehr oder weniger rekonstruieren. Beim letzten Mal habe ich Ihnen zu zeigen versucht, wie sogar der Begriff des Krieges durch das Prinzip nationaler Universalität schließlich aus der historischen Analyse verdrängt wurde.* Ich würde Ihnen jetzt gerne zeigen, wie das Thema der Rasse nicht verschwindet, sondern von ganz anderer Seite, von der des Staatsrassismus nämlich, wiederaufgenommen wird. Heute möchte ich ein wenig von der Geburt des Staatsrassismus sprechen oder Ihnen wenigstens die Situation näherbringen.
Mir scheint, dass eines der grundlegenden Phänomene des 19. Jahrhunderts in dem bestand und noch besteht, was man die Vereinnahmnung des Lebens durch die Macht nennen könnte: wenn Sie so wollen, eine Machtergreifung auf den Menschen als Lebewesen, eine Art Verstaatlichung des Biologischen oder zumindest eine gewisse Tendenz hin zu dem, was man die Verstaatlichung des Biologischen nennen könnte. Um zu verstehen, was sich ereignet hat, muss man sich, so glaube ich, auf die klassische Theorie der Souveränität beziehen, die uns letzten Endes als Grundlage und Tableau für unsere Analysen über den Krieg und die Rassen gedient hat. Eines der Hauptelemente der klassischen Theorie der Souveränität war, wie Sie wissen, das Recht über Leben oder Tod. Nun ist das Recht über Leben und Tod ein merkwürdiges Recht, merkwürdig bereits auf der theoretischen Ebene; denn was bedeutet es, das Recht über Leben und Tod zu haben? Dass der Souverän das Recht über Leben und Tod innehat, bedeutet im Grunde, dass er sterben machen und leben lassen kann; in jedem Fall sind Leben und Tod keine natürlichen, unmittelbaren, in gewisser Weise ursprünglichen und radikalen Phänomene, die aus dem Bereich der politischen Macht herausfielen. Wenn man es noch ein wenig weiter und bis zum Paradox zuspitzt, dann besagt das im Grunde, dass das Subjekt angesichts der Macht von Rechts wegen weder lebendig noch tot ist. Es ist unter dem Gesichtspunkt von Leben und Tod neutral und nur dank der Tatsache, dass es den Souverän gibt, hat das Subjekt das Recht, lebendig oder gegebenenfalls tot zu sein. In jedem Fall werden Leben und Tod der Subjekte erst durch die Wirkung des souveränen Willens zu Rechten. Hierin besteht, wenn Sie so wollen, das theoretische Paradox. Ein theoretisches Paradox, das offenbar durch eine Art praktisches Ungleichgewicht komplettiert werden muss. Was heißt das eigentlich, das Recht über Leben und Tod? Natürlich nicht, dass der Souverän das Leben in derselben Weise anordnen lassen kann wie das Sterben. Das Recht über Leben oder Tod lässt sich nur auf eine ungleichgewichtige Weise ausüben und zwar immer auf Seiten des Todes. Die Wirkung der souveränen Macht auf das Leben lässt sich erst von dem Moment an ausüben, da der Souverän töten kann. Es ist letztlich das Recht zu töten, das tatsächlich die Essenz dieses Rechts auf Leben und Tod in sich trägt: ab dem Moment, da der Souverän töten kann, übt er sein Recht über das Leben aus. Das ist wesentlich ein Recht des Schwertes. Folglich besteht keine wirkliche Symmetrie innerhalb dieses Rechts über Leben und Tod. Ebensowenig handelt es sich um das Recht, sterben oder leben zu machen. Es ist auch nicht das Recht, leben oder sterben zu lassen. Es ist das Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen. Was natürlich eine augenfällige Assymetrie einführt.
Und ich denke, dass eine der nachhaltigsten Transformationen des politischen Rechts im 19. Jahrhundert darin bestand, dieses alte Recht der Souveränität – sterben zu machen oder leben zu lassen – zwar nicht unbedingt zu ersetzen, aber durch ein anderes neues Recht zu ergänzen, durch ein Recht, das ersteres nicht beseitigt, sondern in es eindringt, es durchdringt, verändert und das ein Recht oder vielmehr eine genau umgekehrte Macht ist: die Macht, leben zu »machen« und sterben zu »lassen«. Das Recht der Souveränität besteht demgemäß darin, sterben zu machen oder leben zu lassen. Danach installiert sich dieses neue Recht: das Recht, leben zu machen und sterben zu lassen.
Natürlich erfolgte diese Transformation nicht auf einen Schlag. Man kann sie in der Theorie des Rechts verfolgen (das werde ich jedoch sehr rasch abhandeln). Bereits von den Juristen des 17. und insbesondere des 18. Jahrhunderts wird diese Frage in Bezug auf das Recht über Leben und Tod gestellt. Wenn die Juristen fragen: Warum schließen sich die Individuen zusammen, auf der Ebene des Gesellschaftsvertrags, um zu verhandeln, das heißt, um einen Souverän zu konstituieren, um einem Souverän die absolute Macht über sich zu übertragen? Sie tun es, weil sie aufgrund von Gefahr oder Mangel dazu gezwungen sind. Sie tun es folglich, um ihr Leben zu schützen. Um leben zu können, konstituieren sie einen Souverän. Kann das Leben insofern wirklich Bestandteil der Rechte des Souveräns werden? Begründet nicht vielmehr das Leben das Recht des Souveräns, kann der Souverän wirklich von seinen Untertanen das Recht fordern, über sie die Macht über Leben und Tod auszuüben, das heißt die Macht, sie ganz einfach zu töten? Muss das Leben nicht außerhalb des Vertrags bleiben, insofern es der erste Anstoß, der ausschlaggebende und fundamentale Anlaß für den Vertrag ist? All das ist eine Frage der politischen Philosophie, die man beiseitelassen kann, die jedoch sehr gut zeigt, wie das Problem des Lebens im Feld des politischen Denkens, der Analyse der politischen Macht problematisch zu werden beginnt. Ich möchte diese Veränderung nicht auf der Ebene der politischen Theorie, sondern eher der Mechanismen, der Techniken und Machttechnologien verfolgen. Dabei stößt man auf vertraute Dinge: im 17. und 18. Jahrhundert sieht man Machttechniken entstehen, die wesentlich auf den Körper, den individuellen Körper gerichtet waren. All diese Prozeduren ermöglichten die räumliche Verteilung der individuellen Körper (ihre Trennung, ihre Ausrichtung, ihre Serialisierung und Überwachung) und die Organisation eines ganzen Feldes der Sichtbarkeit rund um diese individuellen Körper. Mit Hilfe dieser Techniken vereinnahmte man die Körper, versuchte man ihre Nutzkraft durch Übung, Dressur usw. zu verbessern. Es handelte sich zugleich um Techniken der Rationalisierung und der strikten Ökonomie einer Macht, die auf am wenigsten kostspielige Weise mittels eines gesamten Systems der Überwachung, der Hierarchie, Kontrolle, Aufzeichnung und Berichte ausgeübt werden sollte: Diese gesamte Technologie wird man als Disziplinartechnologie der Arbeit bezeichnen. Sie wurde mit dem ausgehenden 17. und im Laufe des 18. Jahrhunderts installiert.[1]
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehen wir, wie mir scheint, etwas Neues auftreten, das eine andere, diesmal nicht-disziplinäre Machttechnologie darstellt. Eine Machttechnologie, die erstere nicht ausschließt, die die Disziplinartechnik nicht ausschließt, sondern sie umfaßt, integriert, teilweise modifiziert und sie vor allem benutzen wird, indem sie sich in gewisser Weise in sie einfügt und dank dieser vorgängigen Disziplinartechnik wirklich festsetzt. Diese neue Technik unterdrückt die Disziplinartechnik nicht, da sie ganz einfach auf einer anderen Ebene, auf einer anderen Stufe angesiedelt ist, eine andere Oberflächenstruktur besitzt und sich anderer Instrumente bedient.
Diese neue Technik der nicht-disziplinären Macht lässt sich nun – im Gegensatz zur Disziplin, die sich auf den Körper richtet – auf das Leben der Menschen anwenden; sie befasst sich, wenn Sie so wollen, nicht mit dem Körper-Menschen, sondern dem lebendigen Menschen, dem Menschen als Lebewesen, und letztendlich, wenn Sie so wollen, dem Gattungsmenschen. Genauer gesagt versucht die Disziplin die Vielfalt der Menschen zu regieren, insofern diese Vielfalt sich in individuelle, zu überwachende, zu dressierende, zu nutzende, gegebenenfalls zu bestrafende Körper unterteilen lässt. Die neue Technologie dagegen richtet sich an die Vielfalt der Menschen, nicht insofern sie sich zu Körpern zusammenfassen lassen, sondern insofern diese im Gegenteil eine globale Masse bilden, die von dem Leben eigenen Gesamtprozessen geprägt sind wie Prozessen der Geburt, des Todes, der Produktion, Krankheit usw. Nach einem ersten Machtzugriff auf den Körper, der sich nach dem Modus der Individualisierung vollzieht, haben wir einen zweiten Zugriff der Macht, nicht individualisierend diesmal, sondern massenkonstituierend, wenn Sie so wollen, der sich nicht an den Körper-Menschen, sondern an den Gattungs-Menschen richtet. Nach der Anatomie-Politik des menschlichen Körpers, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ausbreitete, sehen wir am Ende dieses Jahrhunderts etwas auftreten, das keine Anatomie-Politik des menschlichen Körpers mehr ist, sondern etwas, das ich als »Biopolitik« der menschlichen Gattung bezeichnen würde.
Worum geht es in dieser neuen Technologie der Macht, in dieser Biopolitik, in dieser Bio-Macht, die sich durchzusetzen beginnt? Ich habe es vorhin in zwei Worten gesagt: es handelt sich um eine Gesamtheit von Prozessen wie das Verhältnis von Geburt- und Sterberaten, den Geburtenzuwachs, die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung usf. Diese Prozesse der Geburten- und Sterberate, der Lebensdauer haben gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Verbindung mit einer ganzen Menge ökonomischer und politischer Probleme (auf die ich jetzt nicht eingehe) die ersten Wissensobjekte und die ersten Zielscheiben biopolitischer Kontrolle abgegeben. Auf jeden Fall verwirklicht man zu diesem Zeitpunkt mit den ersten demographischen Erhebungen die statistische Messung dieser Phänomene. Es handelt sich um die Beobachtung von mehr oder weniger spontanen und planvollen Verfahren, die in der Bevölkerung in Bezug auf die Natalität durchgeführt wurden; es geht, wenn Sie so wollen, um die Ermittlung von Phänomenen der Geburtenkontrolle, wie sie im 18. Jahrhundert praktiziert wurde. Es kommt nun im Ansatz zu einer Geburtenpolitik oder jedenfalls zu Interventionsschemata in diese globalen Phänomene der Geburtenrate. In dieser Biopolitik handelt es sich nicht einfach um das Problem der Fruchtbarkeit. Es geht auch um das Problem der Sterblichkeit, nicht mehr einfach, wie es bis dahin der Fall war, auf der Ebene jener berühmten Epidemien, deren Gefahr die politischen Mächte seit dem tiefen Mittelalter so sehr bedrohte (die berühmten Epidemien, die vorübergehende Dramen des vervielfachten Todes, des allen drohenden Todes waren). Zu diesem Zeitpunkt gegen Ende des 18. Jahrhunderts geht es sich nicht um Epidemien, sondern um etwas anderes, das man Endemien nennen könnte, das heißt die Form, Natur, Ausdehnung, Dauer und Intensität der in einer Bevölkerung herrschenden Krankheiten. Mehr oder weniger schwer ausrottbare Krankheiten, die anders als die Epidemien nicht unter dem Blickwinkel zunehmender Todesursachen betrachtet werden, sondern als permanente Faktoren – so werden sie behandelt – des Entzugs von Kräften, der Verminderung der Arbeitszeit, des Energieverlustes und ökonomischer Kosten, und zwar ebensosehr aufgrund des von ihnen produzierten Mangels wie der Pflege, die sie kosten können. Kurz, Krankheit als Bevölkerungsphänomen: nicht mehr als Tod, der sich brutal auf das Leben legt – das ist die Epidemie –, sondern als permanenter Tod, der in das Leben hineinschlüpft, es unentwegt zerfrisst, es mindert und schwächt.
Diese Phänomene beginnt man gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu berücksichtigen; sie führen zur Einrichtung einer Medizin, deren Hauptaufgabe jetzt in der öffentlichen Hygiene liegt, mitsamt den Organismen zur Koordinierung der medizinischen Versorgung, der Zentralisierung der Information, der Normalisierung des Wissens und die auch das Aussehen einer Aufklärungskampagne in Sachen Hygiene und medizinischer Versorgung der Bevölkerung annimmt. Es handelt sich also um Probleme der Reproduktion, der Geburten- und Sterberate. Ein weiteres Interventionsfeld der Biopolitik sollte ein Komplex von Phänomenen sein, von denen einige universeller und andere akzidenteller Natur sind, die jedoch nie vollständig eliminierbar sind, selbst wenn sie zufällig sind, und die analoge Konsequenzen der Unfähigkeit, des Ausschlusses der Individuen, der Neutralisierung usw. mit sich bringen. Dies wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts (zum Zeitpunkt der Industrialisierung) das sehr wichtige Problem des Alters sein, also des Individuums, das aus dem Feld der Fähigkeiten und Tätigkeiten herausfällt. Auf der anderen Seite gibt es die Unfälle, Gebrechen, die verschiedenen Anomalien. Mit Blick auf diese Phänomene wird die Biopolitik nicht nur Unterstützungseinrichtungen (die ihrerseits seit langem existierten), sondern zugleich auch viel subtilere und ökonomisch viel rationalere Mechanismen als die große, zugleich massive und lückenhafte Unterstützung, die im wesentlichen an die Kirche gebunden war, ins Leben rufen. Man verfügt über subtilere, rationellere Mechanismen der Versicherung, des individuellen und kollektiven Sparens, der Sicherheit usf.[2].
Schließlich die letzten Bereiche (ich zähle hier nur die wichtigsten auf, jene, die Ende des 18. und zu Beginn des 19.Jahrhunderts in Erscheinung traten; später wird es noch ganz andere geben): sie berücksichtigen nunmehr die Beziehungen innerhalb der menschlichen Gattung, der menschlichen Wesen als Gattung, als Lebewesen und in ihrem Umfeld, ihrem Lebensumfeld – seien es nun die unmittelbaren Auswirkungen der geographischen, klimatischen, hydrographischen Umgebung, Probleme beispielsweise der Sümpfe und der an die Existenz von Sümpfen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebundenen Epidemien. Ebenso geht es um das Problem des Milieus, insofern es kein natürliches Milieu ist und auf die Bevölkerung rückwirkt; ein Milieu, das von ihr hervorgebracht wurde. Das ist im wesentlichen das Problem der Stadt. Ich nenne Ihnen hierzu nur einfach einige Punkte, von denen aus sich die Biopolitik konstituierte, einige ihrer Praktiken und die ersten Bereiche ihrer Intervention, ihres Wissen und ihrer Machtausübung zugleich: in Bezug auf Geburten- und Sterberate, die verschiedenen biologischen Unzulänglichkeiten, die Auswirkungen des Milieus, in Bezug auf all das trägt die Biopolitik Wissen zusammen und definiert sie das Feld ihrer Machtintervention.
Darunter sind, denke ich, eine Reihe nicht unwichtiger Punkte. Erstens das Auftauchen eines neuen Elements – um nicht zu sagen einer Person –, die weder der Rechtspraxis noch der Disziplinarpraxis bekannt sind. Die Rechtstheorie kannte im Grunde nur das Individuum und die Gesellschaft: das vertragsschließende Individuum und den Gesellschaftskörper, der durch den freiwilligen oder impliziten Vertrag der Individuen konstituiert worden war. Die Disziplinen hatten es praktisch mit dem Individuum und seinem Körper zu tun. In der neuen Technologie der Macht hat man es dagegen nicht unbedingt mit der Gesellschaft (oder zumindest mit dem Gesellschaftskörper, wie ihn die Juristen definieren) zu tun und ebensowenig mit dem individuellen Körper. Es ist ein neuer Körper: ein multipler Körper mit zahlreichen Köpfen, der, wenn nicht unendlich, zumindest nicht zwangsläufig zählbar ist. Es geht um das Konzept der »Bevölkerung«. Die Biopolitik hat es mit der Bevölkerung, mit der Bevölkerung als politischem Problem, als zugleich wissenschaftlichem und politischem Problem, als biologischem und Machtproblem zu tun – ich denke, dass dies der Augenblick ist, in dem sie in Erscheinung tritt.
Darüberhinaus gilt es – abgesehen vom Auftauchen jenes Moments der Bevölkerung – die Natur der berücksichtigten Phänomene zu beachten. Wie Sie sehen, handelt es sich um kollektive Phänomene, die in ihren ökonomischen und politischen Wirkungen erst auf der Ebene der Masse in Erschinung treten und bedeutsam werden. Es sind zufällige und unvorhersehbare Phänomene, wenn man sie individuell für sich nimmt, die jedoch auf kollektiver Ebene Konstanten aufweisen, die ausfindig zu machen leicht oder immhin möglich ist. Und schließlich sind es Phänomene, die sich wesentlich in der Dauer entfalten, die nur in einem gewissen mehr oder weniger langen Zeitraum zu fassen sind: serielle Phänomene. Die Biopolitik richtet sich also insgesamt auf Zufallsereignisse, die sich innerhalb einer Bevölkerung ergeben, wenn man sie als zeitliche Ersteckung erfasst.
Auf dieser Grundlage wird – als dritter Vorgang, den ich wichtig finde – diese Technologie der biopolitischen Macht Mechanismen ins Leben rufen, die zahlreiche Funktionen aufweisen, die sich von denen der Disziplinarmechanismen unterscheiden. In den von der Biopolitik errichteten Machtmechanismen handelt es sich zunächst natürlich um Vorhersagen, statistische Einschätzungen und globale Messungen; es geht aber auch darum, nicht ein bestimmtes einzelnes Phänomen oder Individuum, insofern es Individuum ist, zu verändern, sondern wesentlich auf der Ebene der Determination dieser allgemeinen Phänomene einzugreifen, auf der Ebene der Phänomene, insoweit sie global sind. Es wird notwendig werden, die Sterberate zu verändern und zu senken, das Leben zu verlängern und die Geburtenrate zu stimulieren. Es geht insbesondere darum, Regulationsmechanismen einzuführen, die in dieser globalen Bevölkerung mit ihrem Zufallsfaktor ein Gleichgewicht herstellen, ein Mittelmaß wahren, eine Art Homöostase etablieren und einen Ausgleich garantieren können; es geht kurz gesagt darum, Sicherheitsmechanismen um dieses Zufallsmoment herum, das einer Bevölkerung von Lebewesen inhärent ist, zu errichten und das Leben zu optimieren, wenn Sie so wollen: mit Hilfe von Mechanismen wie den Disziplinarmechanismen, die insgesamt dazu da sind, Kräfte zu steigern und abzuschöpfen, die aber über völlig andere Wege verlaufen. Denn es geht hier im Gegensatz zu den Disziplinen nicht um individuelle Dressur, die sich mittels Arbeit am Körper selbst vollzöge. Es geht absolut nicht darum, sich auf einen individuellen Körper zu richten, wie es die Disziplin tut. Das Individuum soll folglich keineswegs auf der Ebene des Details, vielmehr durch globale Mechanismen gepackt werden; man soll vielmehr so handeln, dass globale Gleichgewichtszustände und Regelmäßigkeiten erzielt werden; kurz gesagt geht es also darum, das Leben und die biologischen Prozesse der Menschengattung zu erfassen und nicht deren Disziplinierung, sondern deren Regulierung sicherzustellen.[3]
Diesseits dieser großen absoluten, dramatischen und dunklen Macht der Souveränität, die darin bestand, sterben zu machen, tritt jetzt mit dieser Technologie der Biomacht, dieser Technologie der Macht über »die« Bevölkerung als solche, über den Menschen als Lebenwesen, eine dauerhafte und gelehrte Macht hervor: die Macht, »leben zu machen«. Die Souveränität machte sterben und ließ leben. Nun tritt eine Macht in Erscheinung, die ich als Regulierungsmacht bezeichnen würde und die im Gegenteil darin besteht, leben zu machen und sterben zu lassen.
Ich glaube, dass sich diese Macht konkret in der berühmten fortschreitenden Abwertung des Todes manifestiert, auf die die Soziologen und Historiker so oft zu sprechen kommen. Jedermann weiß, zumindest seit gewissen jüngst erschienener Untersuchungen, dass die große öffentliche Ritualisierung des Todes seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verschwunden ist und bis heute mehr und mehr im Verschwinden begriffen ist. Dies geht bis zu dem Punkt, dass heutzutage der Tod, der keine herausragende Zeremonie mehr ist – an der die Individuen, die Familie, die Gruppe, fast die gesamte Gesellschaft teilhaben – im Gegenteil zu etwas geworden ist, was man verbirgt. Er ist zur allerprivatesten und verschämtesten Sache der Welt geworden (vielleicht ist heute der Sex weniger Gegenstand eines Tabus als der Tod). Der Grund, warum der Tod tatsächlich zu etwas geworden ist, was man verbirgt, liegt meines Erachtens nicht in einer Art Verschiebung der Angst oder in einer Veränderung der Repressionsmechanismen. Er liegt in einer Veränderung der Machttechnologien. Was seinerzeit (und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts) dem Tod seine Pracht verlieh und ihm diese hohe Ritualisierung aufzwang, war die Tatsache, dass er den Übergang von einer Macht zu einer anderen anzeigte. Der Tod war jener Moment, in dem man von der Macht des Souveräns hier auf Erden in jene andere Macht des Souveräns im Jenseits überging. Man ging von einer Urteilsinstanz zur nächsten, von einem zivilen oder öffentlichen Recht über Leben oder Tod zu einem Recht auf ewiges Leben oder ewige Verdamnis über. Es war der Übergang von einer Macht zur nächsten. Der Tod war zugleich die Übertragung der Macht des Sterbenden auf die Lebenden: die letzten Worte, die letzten Empfehlungen, der letzte Wille, das Testament usf. Alle Phänomene der Macht wurden auf diese Weise ritualisiert.
Jetzt, da die Macht weniger und weniger in dem Recht, sterben zu machen, und immer mehr in dem Recht liegt, zugunsten des Lebens zu intervenieren und auf die Art des Lebens und das »Wie« des Lebens einzuwirken, jetzt, da die Macht vor allem eingreift, um das Leben zu verbessern, seine Unfälle, Zufälle, Mangelerscheinungen zu kontrollieren, wird der Tod als Endpunkt des Lebens mit einem Schlag natürlich zum Schlußstein, zur Grenze, zum Ende der Macht. Er steht außerhalb der Macht: Er ist das, was sich ihrem Zugriff entzieht und worauf die Macht nur allgemein, global und statistisch Zugriff hat. Die Macht hat nicht auf den Tod, sondern auf die Sterberate Zugriff. Insofern ist es normal, dass der Tod jetzt auf die Seite des Privaten und ins Allerprivateste abgleitet. Während im Recht der Souveränität der Tod den Punkt darstellte, an dem die absolute Macht des Souveräns sich am stärksten manifestierte, wird der Tod jetzt im Gegenteil zu dem Moment, an dem das Individuum sich dieser Macht entzieht, auf sich selbst zurückfällt und sich gewissermaßen auf seinen privatesten Bereich zurückzieht. Die Macht kennt den Tod nicht mehr. Strenggenommen lässt die Macht den Tod fallen.
Als Symbol für all das mag hier, wenn Sie so wollen, der Tod Francos stehen, der aufgrund der eingesetzten symbolischen Werte gleichwohl von Interesse ist, da in ihm derjenige stirbt, der das souveräne Recht über Leben und Tod in der Ihnen bekannten Grausamkeit ausgeübt hat, der blutigste aller Diktatoren, der das souveräne Recht über Leben und Tod vierzig Jahre lang hatte absolut herrschen lassen und zum Zeitpunkt seines eigenen Todes dieses neue Feld der Macht über das Leben betritt, das nicht nur darin besteht, das Leben zu ermöglichen oder leben zu machen, sondern das Individuum sogar jenseits seines Todes leben zu machen. Dank einer Macht, die nicht einfach eine wissenschaftliche Großtat darstellt, sondern diese im 19. Jahrhundert entwickelte politische Bio-Macht effektiv ausübt, lässt man die Leute dermaßen gut leben, dass sie sogar noch zu jenem Zeitpunkt leben, da sie biologisch seit langem tot sein müssten. Auf diese Weise ist derjenige, der über Hunderttausende von Menschen die absolute Macht über Leben und Tod ausgeübt hat, einer Macht anheimgefallen, die das Leben so gut verwaltete und den Tod so wenig beachtete, dass er nicht einmal bemerkte, dass er längst tot war und man ihn nach seinem Tod weiterleben ließ. Mir scheint, dass der Zuesammenprall dieser beiden Machtsysteme, jenes der souveränen Macht über den Tod und jenes der Regulierung des Lebens, sich in diesem kleinen und freudigen Ereignis symbolisiert.
Ich möchte jetzt gerne die Unterscheidung zwischen der regulatorischen Technologie des Lebens und der disziplinären Technologie des Körpers, von der ich vorhin gesprochen habe, wiederaufgreifen. Seit dem 18. Jahrhundert (oder in jedem Fall seit dem Ende des 18. Jahrhunderts) gibt es zwei Machttechnologien, die sich in einem gewissen zeitlichen Abstand etabliert haben und sich überlagern. Zunächst die Disziplinartechnik: Sie richtet sich auf den Körper, sie produziert individualisierende Wirkungen, sie manipuliert den Körper als Zentrum von Kräften, die zugleich nützlich und gelehrig zu machen sind. Und auf der anderen Seite haben wir eine Technologie, die sich nicht an den Körper, sondern an das Leben wendet; eine Technologie, die die einer Bevölkerung eigenen Masseneffekte zusammenfasst und die Serie der Zufallsereignisse, die in einer lebendigen Masse auftauchen können, zu kontrollieren sucht; eine Technologie, die danach strebt, deren Wahrscheinlichkeit zu kontrollieren (und gegebenenfalls zu modifizieren), in jedem Fall deren Wirkungen zu kompensieren. Es handelt sich um eine Technologie, die nicht durch individuelle Dressur, sondern durch globales Gleichgewicht auf etwas wie Homöostase zielt: auf die Sicherheit des Ganzen vor seinen inneren Gefahren. Mithin eine Dressurtechnologie im Gegensatz zu und unterschieden von einer Sicherheitstechnologie; eine Disziplinartechnologie, die sich von einer Versicherungs- oder Regulierungstechnologie unterscheidet: eine Technologie, die zwar in beiden Fällen eine Technologie des Körpers ist, wo es sich aber in dem einen Fall um eine Technologie handelt, in der der Körper als mit Fähigkeiten ausgestatteter Organismus individualisiert wird, und im anderen um eine Technologie, in der die Körper durch die biologischen Gesamtprozesse ersetzt werden.
Es lässt sich mithin Folgendes sagen: Alles hat sich so zugetragen, als ob die Macht, deren Modalität und Organisationsschema die Souveränität war, sich außerstande gesehen hätte, den ökonomischen und politischen Körper einer Gesellschaft zu regieren, die zugleich eine Bevölkerungsexplosion und die Industrialisierung durchläuft. So dass der alten Mechanik der Souveränitätsmacht allzu viele Dinge unten wie oben, auf der Ebene des Details wie der Massen, entgingen. Um das Detail wiedereinzuholen, fand eine erste Anpassung statt: die Anpassung der Machtmechanismen an den individuellen Körper mittels Überwachung und Dressur – das war die Disziplin. Natürlich war das die am leichtesten und einfachsten zu realisierende Anpassung. Daher vollzog sie sich als erste – ab dem 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts – auf lokaler Ebene, in intuitiven, empirischen, bruchstückhaften Formen und im begrenzten Rahmen von Institutionen wie der Schule, dem Hospital, der Kaserne, der Werkstatt usf. Ende des 18. Jahrhunderts haben Sie schließlich eine zweite Anpassung an die globalen Phänomene, an die Bevölkerungsphänomene mitsamt der biologischen und biosoziologischen Prozesse von Menschenmassen. Das ist eine viel schwierigere Anpassung, da sie selbstverständlich komplexe Organe zur Koordinierung und Zentralisierung erfordert.
Wir haben also zwei Serien: die Serie Körper – Organismus – Disziplin – Institutionen; und die Serie Bevölkerung –biologische Prozesse – Regulierungsmechanismen* – Staat. Ein organisches institutionelles Ganzes: eine Organo-Disziplin der Institution, wenn Sie so wollen, und auf der anderen Seite eine biologische und staatliche Gesamtheit: die Bio-Regulierung durch den Staat. Ich will diesen Gegensatz zwischen Staat und Institutionen nicht verabsolutieren, da die Disziplinen in der Tat immer dahin tendieren, den institutionellen oder lokalen Rahmen, in dem sie gefangen sind, zu sprengen. Dann nehmen sie in gewissen Apparaten leicht eine staatliche Dimension an, wie beispielsweise bei der Polizei, die zugleich ein Disziplinar- und ein Staatsapparat ist (was beweist, dass die Disziplin nicht immer institutioneller Natur ist). Ebenso finden wir die großen globalen Regulierungen, die sich im Laufe des 19. Jahrhundert ausgebreitet haben, natürlich auf der staatlichen Ebene, aber auch unterhalb der staatlichen Ebene in einer ganzen Reihe von sub-staatlichen Institutionen wie den medizinischen Institutionen, den Ersatzkassen, den Versicherungen usf. Soweit die erste Bemerkung, die ich anstellen wollte.
Andererseits liegen diese beiden Mechanismen, die disziplinären und die regulatorischen, nicht auf derselben Ebene. Dies ermöglicht es ihnen gerade, sich nicht wechselseitig auszuschließen und sich miteinander zu verbinden. Mann kann sogar behaupten, dass die Disziplinarmechanismen der Macht und die regulatorischen Mechanismen der Macht, die Mechanismen, die den Körper disziplinieren, und die Mechanismen, die die Bevölkerung regulieren, in den meisten Fällen miteinander verknüpft sind. Hier ein oder zwei Beispiele: Nehmen Sie das Problem der Stadt oder genauer gesagt diese räumliche, überlegte, geplante Verteilung, wie sie die Modell-Stadt, die künstliche Stadt, die Stadt utopischer Realität darstellt und wie man sie sich nicht nur erträumt, sondern im 19. Jahrhundert tatsächlich errichtet hat. Nehmen Sie etwa die Arbeiterstadt. Wie sieht die Arbeiterstadt aus, die es im 19. Jahrhundert gibt? Man kann sehr gut erkennen, wie sie gewissermaßen rechtwinkelig Disziplinarmechanismen zur Kontrolle des Körpers, der Körper durch die Rasterung, durch Unterteilung der Stadt und durch die Lokalisierung von Familien (jede in einem Haus) und Individuen zum Ausdruck bringt. Unterteilung, Sichtbarmachung der Individuen, Normalisierung der Verhaltensweisen, eine Art spontaner Polizeikontrolle, die durch die räumliche Verteilung der Stadt selbst bewirkt wird: eine ganze Reihe von Disziplinarmechanismen, die sich in der Arbeiterstadt leicht antreffen lassen. Daneben haben Sie eine ganze Reihe von Mechanismen, die im Gegensatz dazu regulatorische Mechanismen und auf die Bevölkerung als solche gerichtet sind und beispielsweise Haltungen des Sparens ermöglichen und nahelegen, die mit Wohnverhältnissen, der Lage der Wohnung und gegebenenfalls ihrem Kauf verbunden ist. Systeme der Krankenversicherung und der Alterssicherung; Hygieneregeln, die die größtmögliche Lebensdauer der Bevölkerung gewährleisten; der Druck, den die Organisation der Stadt auf die Sexualität und damit auf die Fortpflanzung ausübt; Druck, den man auf die Familienhygiene ausübt, Kinderpflege, Schulpflicht usw. Hier haben Sie also Disziplinar- und Regulierungsmechanismen.
Nehmen Sie einen ganz anderen – freilich nicht völlig anderen, nicht vollständig anderen – Bereich; nehmen Sie auf einer anderen Achse so etwas wie die Sexualität. Warum wird die Sexualität im 19. Jahrhundert zu einem Bereich, dessen strategische Bedeutung sehr groß ist? Wenn die Sexualität wichtig war, dann aus verschiedenen Gründen, vor allem aber aus folgenden: Einerseits ergibt sich die Sexualität als körperliches Verhalten aus einer individualisierenden Disziplinarkontrolle in der Form permanenter Überwachung (ab dem Ende des 18. Jahrhunderts hat man beispielsweise begonnen, die Kinder den berühmten Kontrollen der Masturbation auszusetzen und zwar im familiären Bereich, im schulischen Bereich usf.; sie stellen genau diese Seite der disziplinären Kontrolle der Sexualität dar); daneben fügt sich die Sexualität dank ihrer Fortpflanzungseffekte gleichzeitig in die umfassenden biologischen Prozesse ein, die nicht mehr den Körper des Individuums, sondern jenes Element, jene multiple Einheit betreffen, die die Bevölkerung ist. Die Sexualität befindet sich an der Kreuzung von Körper und Bevölkerung. Folglich gehört sie zur Disziplin, aber auch zur Regulierung.
Die extreme medizinischen Aufwertung der Sexualität im 19. Jahrhundert ergibt sich, wie ich denke, aus dieser privilegierten Position der Sexualität zwischen Organismus und Bevölkerung, zwischen dem Körper und den globalen Phänomenen. Hieraus erklärt sich auch die medizinische Vorstellung, nach welcher die Sexualität, wenn sie undiszipliniert und unregelmäßig ausgeübt wird, immer zwei Arten von Wirkungen hervorbringt: einerseits auf den Körper, den undisziplinierten Körper, der unmittelbar von allen individuellen Krankheiten ereilt wird, die sexuelle Ausschweifung nach sich zieht. Ein masturbierendes Kind wird sein Leben lang krank sein: eine disziplinäre Sanktion auf der Ebene des Körpers. Zugleich hat eine ausschweifende, pervertierte Sexualität Auswirkungen auf der Ebene der Bevölkerung, da man von dem sexuell Ausschweifenden annimmt, dass sein Erbgut, seine Nachkommenschaft ihrerseits beeinträchtigt sein werden und das über Generationen hinweg bis ins siebente Glied und ins siebte des siebten Glieds. Es handelt sich um die Theorie der Degeneration[4]: die Sexualität, insofern sie ein Herd individueller Krankheiten und andererseits der Kern der Degeneration ist, repräsentiert genau diesen Verbindungspunkt des Disziplinären und Regulatorischen, des Körpers und der Bevölkerung. Sie verstehen nun, warum und wie ein technisches Wissen wie die Medizin oder eher die Gesamtheit aus Medizin und Hygiene im 19. Jahrhundert zu einem Element werden können, das nicht das wichtigste, aber dessen Bedeutung beträchtlich ist aufgrund des Bandes, das es zwischen den wissenschaftlichen Zugriffen auf die biologischen und organischen Prozesse (das heißt auf die Bevölkerung und den Körper) und zugleich, insofern die Medizin eine politische Technik der Intervention ist, den eigentlichen Machtwirkungen knüpft. Die Medizin ist ein Macht-Wissen, das sich zugleich auf die Körper wie die Bevölkerung, auf den Organismus wie die biologischen Prozesse erstreckt und also disziplinierende und regulierende Wirkungen hat.
Noch allgemeiner lässt sich sagen, dass das Element, das vom Disziplinären zum Regulatorischen verläuft und sich auf dieselbe Weise auf den Körper und die Bevölkerung bezieht und zugleich die Kontrolle der disziplinären Ordnung des Körpers und der Zufallsereignisse einer biologischen Vielfalt erlaubt, dass dieses Element, das vom einen zum anderen zirkuliert, die »Norm« ist. Die Norm, das ist das, was sich auf einen Körper, den man disziplinieren will, ebensogut anwenden lässt wie auf eine Bevölkerung, die man regulieren will. Die Normalisierungsgesellschaft ist, so gesehen, nicht eine Art verallgemeinerter Disziplinargesellschaft, deren Disziplinarinstitutionen sich ausgebreitet und die schließlich den gesamten Raum abgedeckt hätten – dies ist nur eine erste und, wie ich denke, unzureichende Interpretation der Idee der Normalisierungsgesellschaft. Die Normalisierungsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der sich entsprechend einer orthogonalen Verknüpfung die Norm der Disziplin und die Norm der Regulierung miteinander verbinden. Wenn man behauptet, dass die Macht im 19. Jahrhundert vom Leben Besitz ergriffen hat oder zumindest, dass die Macht im 19. Jahrhundert das Leben in Beschlag genommen hat, heißt das, dass es ihm gelungen ist, die gesamte Oberfläche abzudecken, die sich vom Organischen zum Biologischen, vom Körper zur Bevölkerung dank des doppelten Spiels der Disziplinartechnologien einerseits, der Regulierungstechnologien andererseits erstreckt.
Wir befinden uns somit im Innern einer Macht, die den Körper und das Leben vereinnahmt oder die das Leben im allgemeinen, wenn Sie so wollen, mit den Polen des Körpers auf der einen und der Bevölkerung auf der anderen Seite in Beschlag genommen hat. Es handelt sich folglich um eine Bio-Macht, deren Paradoxa, die sich an der Grenze ihrer Ausübung auftun, man leicht erkennen kann. Paradoxa, die sich einerseits aus der atomaren Macht ergeben, deren Macht nicht einfach darin besteht, entsprechend der dem Souverän verliehenen Rechte Millionen und Abermillionen von Menschen zu töten (das wäre noch imer ganz traditionell). Die atomare Macht stellt für das Funktionieren der aktuellen politischen Macht eine Art schwer zu umgehendes, wenn nicht unumgehbares Paradox dar, weil sich in der Macht, eine Atombombe zu bauen und zum Einsatz zu bringen, das Vorgehen einer Souveränitätsmacht erkennen läßt, die tötet, aber darüberhinaus auch einer Macht, die sogar das Leben tötet. Die Macht wird in der Atommacht dergestalt eingesetzt, dass sie sich in die Lage versetzt, das Leben selbst zu vernichten. Und sich folglich als Macht, die das Leben garantiert, selbst zu vernichten. Wenn sie dagegen souverän ist und die Atombombe zum Einsatz bringt, dann kann sie nicht Macht, Bio-Macht, Macht zur Erhaltung des Lebens sein, wie sie es seit dem 19. Jahrhundert ist. Am anderen Extrem haben Sie den Übergriff nicht mehr des souveränen Rechts über die Bio-Macht, sondern den Übergriff der Bio-Macht über das souveräne Recht. Zu diesem Übergriff der Bio-Macht kommt es, wenn dem Menschen technisch und politisch die Möglichkeit gegeben ist, nicht allein das Leben zu meistern, sondern es zu vermehren, Lebendiges herzustellen und Monströses und – nicht zuletzt – unkontrollierbare und universell zerstörerische Viren zu fabrizieren. Schreckliche Ausdehnung der Bio-Macht, die im Gegensatz zu dem, was ich gerade über die Atommacht gesagt habe, die ganze menschliche Souveränität überschwemmen wird.
Verzeihen Sie diese langen Umschweife rund um die Bio-Macht, aber ich denke, dass man auf dieser Grundlage dem von mir gestellten Problem wiederbegegnen kann.
Wie wird nun innerhalb dieser Machttechnologie, deren Gegenstand und Ziel das Leben ist (und die mir eines der wesentlichen Merkmale der Machttechnologie seit dem 19. Jahrhundert zu sein scheint), das Recht zu töten und die Funktion des Mordens ausgeübt, wenn es stimmt, dass die Souveränitätsmacht mehr und mehr zurückgeht und dafür die disziplinäre und regulatorische Bio-Macht immer mehr um sich greift? Wie kann eine solche Macht töten, wenn es stimmt, dass es im wesentlichen darum geht, das Leben aufzuwerten, seine Dauer zu verlängern, seine Möglichkeiten zu vervielfachen, seine Unfälle fern zu halten oder seine Mängel zu kompensieren? Wie ist es einer politischen Macht unter diesen Bedingungen möglich zu töten, den Tod zu fordern, den Tod zu verlangen, zu töten, den Tod zu befehlen, nicht nur seine Feinde dem Tod auszusetzen, sondern sogar die eigenen Bürger? Wie kann diese Macht, die wesentlich die Hervorbringung von Leben zum Ziel hat, sterben lassen? Wie kann man die Macht des Todes, wie kann man die Funktion des Todes in einem rund um die Bio-Macht zentrierten politischen System ausüben?
Hier kommt der Rassismus ins Spiel. Ich will keineswegs behaupten, dass der Rassismus zu diesem Zeitpunkt erfunden wurde. Es gab ihn schon viel früher. Aber ich denke, dass er anderswo funktionierte. Mit dem Aufkommen der Bio-Macht zieht der Rassismus in die Mechanismen des Staates ein. Ab da schreibt sich der Rassismus als grundlegender Mechanismus der Macht ein, wie sie in den modernen Staaten eingesetzt wird, und bedingt, dass es kaum ein modernes Funktionieren des Staates gibt, das sich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einer gewissen Grenze und unter bestimmten Bedingungen des Rassismus bedient.
Was ist der Rassismus letztendlich? Zunächst ein Mittel, um in diesen Bereich des Lebens, den die Macht in Beschlag genommen hat, eine Zäsur einzuführen: die Zäsur zwischen dem, was leben und dem, was sterben muß. Schon das biologische Kontinuum der menschlichen Gattung, das Auftauchen von Rassen, die Unterscheidung von Rassen, die Hierarchie von Rassen und die Bewertung bestimmter Rassen als gut und anderer als minderwertig, all das stellt eine Art und Weise dar, das biologische Feld, das die Macht besetzt, zu fragmentieren; eine Art und Weise, im Innern der Bevölkerung Gruppen gegeneinander auszuspielen und, kurz gesagt, eine Zäsur biologischen Typs in einen Bereich einzuführen, der sich eben als biologischer Bereich darstellt. Dies gestattet der Macht, die Bevölkerung als Rassenmischung zu behandeln oder genauer die Gattung in Augenschein zu nehmen und die Gattung zu unterteilen, derer sie sich in Untergruppen angenommen hat und die eben die Rassen sind. Die erste Funktion des Rassismus liegt darin, zu fragmentieren und Zäsuren innerhalb des biologischen Kontinuums, an das sich die Bio-Macht wendet, vorzunehmen.
Der Rassismus hat aber noch eine zweite Funktion: Ihm kommt die Aufgabe zu, eine positive Beziehung vom Typ »je mehr du töten wirst, umso mehr wirst du sterben machen«, oder »je mehr du sterben lässt, umso mehr wirst du ebendeswegen leben«, aufzubauen. Ich würde sagen, dass diese Beziehung (»wenn du leben willst, musst du töten, musst du töten können«) trotz allem weder vom Rassismus noch vom modernen Staat erfunden worden ist. Sondern viel eher die kriegerische Beziehung: »Um zu leben, musst du wohl deine Feinde umbringen«. Aber der Rassismus lässt diese Beziehung kriegerischen Typs – »wenn du leben willst, muss der andere sterben« – funktionieren, spielt sie auf eine neue Art und Weise aus, die mit der Ausübung der Bio-Macht kompatibel ist. Einerseits ermöglicht der Rassismus tatsächlich die Errichtung einer Beziehung zwischen meinem Leben und dem Tod des Anderen, eine nicht-militärische und kriegerische Begegnung, vielmehr eine Beziehung biologischen Typs: »je mehr niedere Gattungen im Verschwinden begriffen sind, je mehr anormale Individuen vernichtet werden, desto weniger Degenerierte gibt es in Bezug auf die Gattung, desto besser werde ich – nicht als Individuum, sondern als Gattung – leben, stark sein, kraftvoll sein und gedeihen«. Der Tod des Anderen ist nicht einfach mein Leben in der Weise, dass er meine persönliche Sicherheit erhöht; der Tod des Anderen, der Tod der bösen Rasse, der niederen (oder degenerierten oder anormalen) Rasse wird das Leben im allgemeinen gesünder machen; gesünder und reiner.
Es handelt sich somit nicht um eine militärische, kriegerische oder politische Beziehung, sondern eine biologische Beziehung. Dieser Mechanismus kann greifen, weil die zu unterdrückenden Feinde nicht Gegner im politischen Sinn des Wortes sind; sie sind äußere oder innere Gefahren in Bezug auf die Bevölkerung und für die Bevölkerung. Anders gesagt kann die Tötung, der Imperativ des Todes in das System der Bio-Macht erst dann einziehen, wenn sie nicht den Sieg über die politischen Gegner anstrebt, sondern danach, die biologische Gefahr zu beseitigen und die Gattung selbst oder die Rasse mit dieser Beseitigung direkt zu stärken. Rasse, Rassismus ist die Bedingung für die Akzeptanz des Tötens in einer Normalisierungsgesellschaft. Dort, wo eine Normalisierungsgesellschaft vorliegt, dort, wo Sie eine Macht vorfinden, die zumindest auf ihrer Oberfläche und in erster Instanz, in erster Linie, eine Bio-Macht ist, dort ist der Rassimus notwendige Bedingung dafür, jemanden dem Tod auszuliefern oder die anderen zu töten. Die Tötungsfunktion des Staates kann, sobald der Staat nach dem Modus der Bio-Macht funktioniert, nicht anders gesichert werden als durch Rassismus.
Sie verstehen folglich die Bedeutung – ich würde sogar sagen die vitale Bedeutung – des Rassismus für die Ausübung einer solchen Macht: Er ist die Bedingung für die Ausübung des Rechts auf Tötung. Wenn die Normalisierungsmacht das alte souveräne Recht zu töten ausüben möchte, muss sie sich des Rassismus bedienen. Und wenn umgekehrt eine Souveränitätsmacht, das heißt eine Macht, die das Recht über Leben und Tod innehat, mit den Instrumenten, Mechanismen, der Technologie der Normalisierung funktionieren will, dann muss sie sich ebenfalls des Rassismus bedienen. Selbstverständlich verstehe ich unter Tötung nicht den direkten Mord, sondern auch alle Formen des indirekten Mordes: jemanden der Gefahr des Todes auszusetzen, für bestimmte Leute das Todesrisiko oder ganz einfach den politischen Tod, die Vertreibung, Abschiebung usw. zu erhöhen.
Von hier aus werden, wie mir scheint, gewisse Dinge verständlich. Zunächst wird die Verbindung zwischen der biologischen Theorie des 19. Jahrhunderts und dem Machtdiskurs verständlich. Im Grunde ist die Evolutionstheorie, in einem weiten Sinn verstanden – das heißt weniger die Theorie Darwins selbst als die Gesamtheit, das Bündel an Begriffen (wie die Hierarchie der Arten auf dem Stammbaum der Evolution, der Kampf ums Dasein zwischen den Arten, die Zuchtwahl, die die am wenigsten Angepaßten aussondert) – natürlich in den wenigen Jahren des 19. Jahrhunderts nicht einfach zu dem Ansatz geworden, um den politischen Diskurs in biologische Termini umzuschreiben, und auch nicht einfach zu der Art und Weise, einen politischen Diskurs unter einem wissenschaftlichen Deckmantel zu verstecken, sondern wirklich zu der Art und Weise, die Beziehungen der Kolonisierung, die Notwendigkeit des Kriegs, die Kriminalität, die Phänomene von Verrücktheit und geistiger Krankheit und die Geschichte der Gesellschaften mit ihren verschiedenen Klassen usw. zu denken. Anders gesagt, jedesmal wenn es Konflikt, Tötung, Kampf, Todesrisiko gegeben hat, glaubte man sie buchstäblich in Formen der Evolutionstheorie denken zu müssen.
Es wird nunmehr verständlich, warum sich der Rassismus in diesen modernen Gesellschaften, die nach dem Modus der Bio-Macht funkionieren, entwickelt; und auch, warum sich der Rassismus an gewissen herausragenden Punkten, die eben die Punkte sind, an denen das Recht auf Tod notwendigerweise gefordert wird, entzünden wird. Der Rassismus entwickelte sich zunächst mit der Kolonisierung, das heißt dem kolonisatorischen Völkermord. Wie kann man Leute, Völker, Zivilisationen töten, wenn man nach dem Modus der Bio-Macht funktioniert? Mit Hilfe der Themen der Evolutionstheorie, mit Hilfe des Rassismus.
Der Krieg? Wie kann man nicht nur seinen Gegnern den Krieg erklären, sondern seine eigenen Bürger dem Krieg aussetzen und sie zu Millionen töten lassen (wie das eben seit dem 19. Jahrhundert, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschehen ist?), wenn nicht eben durch Rückgriff auf das Thema des Rassismus? Im Krieg wird es von nun an um zwei Dinge gehen: nicht nur einfach darum, den politischen Gegner, sondern die gegnerische Rasse, diese Art biologischer Gefahr, welche das Gegenüber für unsere Rasse darstellt, zu zerstören. Gewiss handelt es sich hier in gewisser Weise nur um die biologische Extrapolation des Themas des politischen Feindes. Aber darüberhinaus wird der Krieg – das ist absolut neu – Ende des 19. Jahrhunderts als Möglichkeit erscheinen, nicht nur die eigene Rasse durch Beseitigung der gegnerischen Rasse zu stärken (entsprechend der Themen der Selektion und des Kampfes ums Dasein), sondern auch die eigene Rasse zu regenerieren. Je zahlreicher jene sein werden, die durch uns umkommen, umso reiner wird die Rasse sein, der wir angehören.
Hier haben wir jedenfalls einen für das Ende des 19. Jahrhunderts neuen Kriegsrassismus, der aufgrund der Tatsache notwendig wurde, dass eine Bio-Macht in der Absicht, Krieg zu führen, (nicht wußte), wie sie den Willen zur Zerstörung des Gegners und das von ihr eingegangene Risiko der Zerstörung jener, deren Leben sie per definitionem schützen, umsorgen und vervielfachen mußte, miteinander verbinden sollte. Dasselbe ließe sich in Bezug auf die Kriminalität sagen. Auch die Kriminalität wurde ab dem Zeitpunkt in Begriffen des Rassismus gedacht, da sie im Mechanismus der Bio-Macht die Tötung des Kriminellen und seine Beseitigung möglich machen mußte. Dasselbe gilt für den Wahnsinn und für die verschiedenen Anomalien.
Im großen und ganzen sichert der Rassimus, denke ich, die Funktion des Todes in der Ökonomie der Bio-Macht gemäß des Prinzips, dass der Tod der Anderen die biologische Selbst-Stärkung bedeutet, insofern man Mitglied einer Rasse oder Bevölkerung ist, insofern man Element einer einheitlichen und lebendigen Pluralität ist. Wie Sie sehen, sind wir hier im Grunde von einem Rassismus sehr weit entfernt sind, der einfach und traditionell Verachtung oder Haß zwischen den Rassen wäre. Wir sind auch sehr weit von einem Rassismus entfernt, der eine Art ideologischer Operation darstellte, dank welcher die Staaten oder eine Klasse versuchten, die eigentlich gegen sich selbst gerichteten oder im Gesellschaftskörper brodelnden Feindseligkeiten gegen einen mythischen Gegner zu richten. Ich glaube, dass er viel tiefer reicht als die alte Tradition, viel tiefer als jede neue Ideologie – es handelt sich um etwas anderes. Die Besonderheit des modernen Rassismus, das, was seine Spezifik ausmacht, ist nicht an Mentalitäten, Ideologien und Lügen der Macht gebunden. Sie ist an die Technik der Macht, an die Technologie der Macht gebunden. Sie ist mit dem verknüpft, was uns, ganz anders als Rassenkrieg und geschichtliche Erkenntnis, in einen Mechanismus hineinversetzt, der der Bio-Macht ihre Ausübung gestattet. Der Rassismus ist an das Funktionieren eines Staates gebunden, der sich zum Zweck der Ausübung seiner souveränen Macht der Rasse, der Eliminierung der Rassen und der Reinigung der Rasse zu bedienen gezwungen sieht. Das Nebeneinander oder vielmehr das Funktionieren der alten souveränen Macht des Rechts über den Tod durch die Bio-Macht hindurch bringt es mit sich, dass der Rassismus erneut funktioniert, erneut in Einsatz gebracht wird und aktiv sein kann. Hier, denke ich, liegen tatsächlich seine Wurzeln.
Unter diesen Bedingungen lässt sich mithin verstehen, wie und warum die mörderischsten Staaten zugleich zwangsläufig die rassistischsten sind. Hier liegt natürlich das Beispiel des Nazismus nahe. Der Nazismus ist wohl tatsächlich die auf die Spitze getriebene Entwicklung neuer, seit dem 18. Jahrhundert vorhandener Machtmechanismen. Es gibt keinen disziplinäreren Staat als das Naziregime; auch keinen Staat, in dem die biologischen Regulierungen auf straffere und nachdrücklichere Weise wiederaufgenommen worden wären. Disziplinarmacht, Bio-Macht: Beide hat die Nazigesellschaft mitaufgenommen und zum Einsatz gebracht (die Erfassung des Biologischen, der Fortpflanzung, der Erbschaft; Erfassung auch von Krankheit und Unfällen). Keine Gesellschaft, die disziplinärer und zugleich absichernder gewesen wäre als die von den Nazis eingeführte oder in jedem Fall geplante. Die Kontrolle der den biologischen Prozessen eigenen Zufälle war eines der unmittelbaren Ziele dieses Regimes.
Aber in dieser universell versichernden, universell beruhigenden, universell regulierenden und disziplinären Gesellschaft gab es zugleich, quer durch die Gesellschaft hindurch, die vollkommenste Entfesselung der Tötungsmacht, das heißt dieser alten souveränen Macht über den Tod. Diese Macht zu töten, die den gesamten sozialen Körper der Nazigesellschaft durchzieht, manifestiert sich vor allem deshalb, weil die Macht zu töten, die Macht über Leben und Tod nicht einfach dem Staat, sondern einer ganzen Reihe von Individuen, einer beträchtlichen Zahl von Leuten (seien es die SA, die SS usw.) übertragen wird. Im Zweifelsfall hat im Nazistaat jedermann das Recht auf Leben und Tod über seinen Nachbarn, und sei es nur durch eine denunziatorische Haltung, die tatsächlich ermöglicht, jenen zu beseitigen oder beseitigen zu lassen, der neben einem wohnt.
Entfesselung der Tötungsmacht und der souveränen Macht mithin quer durch den gesamten Gesellschaftskörper. Dank der Tatsache, dass der Krieg explizit zum politischen Ziel erklärt wird – und nicht einfach zu einem politischen Ziel, um gewisse Mittel zu erreichen, sondern als eine Art letzter und entscheidender Phase aller politischen Prozesse –, muss die Politik in Krieg münden und der Krieg die letzte und entscheidende Phase der Krönung all dessen sein. Folglich ist nicht nur die Zerstörung der anderen Rassen das Ziel des Naziregimes. Die Zerstörung der anderen Rassen ist eine Seite des Plans, die andere geht dahin, die eigene Rasse der absoluten und universellen Todesgefahr auszuliefern. Das Risiko zu sterben, die Auslieferung an die totale Zerstörung ist eines der in die grundlegenden Pflichten des Nazigehorsams und die entscheidenden politischen Ziele eingeschriebenen Prinzipien. Man geht bis zu dem Punkt, an dem die gesamte Bevölkerung dem Tod ausgeliefert wird. Einzig diese universelle Auslieferung der Gesamtbevölkerung an den Tod wird sie tatsächlich zur überlegenen Rasse machen und im Vergleich mit jenen Rassen, die vollständig vernichtet oder endgültig unterworfen werden, definitiv erneuern.
Wir haben in der Nazigesellschaft mithin diesen außergewöhnlichen Sachverhalt, dass sie eine Gesellschaft ist, die die Bio-Macht absolut verallgemeinert, aber gleichzeitig das souveräne Recht zu töten verallgemeinert hat. Die beiden Mechanismen, der klassische, archaische, der dem Staat das Recht auf Leben und Tod über die Bürger verlieh, und dieser neue rund um die Disziplin, die Regulierung, kurz die Bio-Macht organisierte Mechanismus, passen absolut zusammen. So lässt sich Folgendes sagen: Der Nazistaat hat das Feld des Lebens, das er verbessert, schützt, absichert und biologisch kultiviert, und zugleich das Recht des Souveräns, jemanden – nicht nur die anderen, sondern auch die eigenen Leute – zu töten, absolut zur Deckung gebracht. Es gab bei den Nazis die Koinzidenz zwischen einer verallgemeinerten Bio-Macht und einer absoluten und einer Diktatur, die durch das schreckliche Übersetzungsverhältnis zwischen dem Recht zu töten und der Auslieferung des gesamten Gesellschaftskörpers an den Tod gekennzeichnet war Es ist ein absolut rassistischer Staat, ein absolut mörderischer und selbstmöderischer Staat. Diese überlappen sich zwangsläufig und haben natürlich zur »Endlösung« der Jahre 1942-43 und zum Telegramm 71 geführt (dank derer man über die Juden alle anderen Rassen, deren Symbol und Manifestation die Juden waren, eliminieren wollte), in welchem Hitler im April 1945 den Befehl erteilte, die Lebensbedingungen des deutschen Volkes selbst zu zerstören[5].
Endlösung für die anderen Rassen, absoluter Selbstmord der eigenen (deutschen) Rasse. Das war das Ziel dieser an das Funktionieren des modernen Staates gekoppelten Mechanik. Natürlich hat allein der Nazismus das Spiel zwischen dem souveränen Recht zu töten und den Mechanismen der Bio-Macht auf die Spitze getrieben. Dieses Spiel gehört aber tatsächlich zum Funktionieren aller Staaten. Aller modernen Staaten, aller kapitalistischen Staaten? Nicht unbedingt. Ich denke, daß der sozialistische Staat – aber das würde einen anderen Nachweis verlangen –, daß der Sozialismus genauso vom Rassismus geprägt ist, wie das Funktionieren des modernen Staats, des kapitalistischen Staats. Im Vergleich zum Staatsrassismus, der sich unter den von mir genannten Bedingungen herausgebildet hat, ist der Sozial-Rassismus noch vor der Bildung der sozialistischen Staaten in Erscheinung getreten. Der Sozialismus war im 19. Jahrhundert auf Anhieb ein Rassismus. Sei es bei Fourier[6] zu Beginn des Jahrhunderts oder bei den Anarchisten gegen Ende des Jahrhunderts – wenn man alle Formen des Sozialismus Revue passieren läßt, entdeckt man immer eine Komponente des Rassismus.
Darüber zu sprechen fällt mir schwer. Wenn man so einfach darüber spricht, wendet man ein Totschlagargument an. Um Ihnen dies vorzuführen, bräuchte es nicht zuletzt (was ich gerne machen würde) eine weitere Vorlesungsreihe. In jedem Fall würde ich gerne Folgendes sagen: In ganz allgemeiner Form scheint mir – das ist ein wenig dahergeredet – der Sozialismus, insofern er nicht in erster Linie ökonomische und juridische Probleme nach dem Typus von Eigentum und Produktion aufgibt – insofern folglich das Problem der Mechanik der Macht, der Mechanismen der Macht von ihm nicht gestellt und analysiert wird – (der Sozialismus also) nicht umhin zu können, dieselben Mechanismen der Macht, die sich durch den kapitalistischen oder industriellen Staat hindurch konstituiert haben, wiederbesetzen und wiedereinbringen zu müssen. In jedem Fall ist eines gewiß: daß das Thema der gegen Ende des 18. und während des 19. Jahrhunderts entwickelten Bio-Macht nicht nur vom Sozialismus kritisiert wurde, sondern von ihm wiederaufgenommen, weitergeführt, wiedereingepflanzt und in gewissen Punkten modifiziert, aber keinesfalls im Hinblick auf seine Grundlagen und in seinen Funktionsweisen überprüft wurde. Die Vorstellung schließlich, daß Gesellschaft oder Staat oder das, was an die Stelle des Staates treten muß, im wesentlichen die Aufgabe hat, sich um das Leben zu kümmern, es zu verwalten, zu vermehren und seine Zufälle auszuschließen, seine Chancen und biologischen Möglichkeiten zu durchlaufen und einzugrenzen – all das wurde vom Sozialismus, wie mir scheint, wiederaufgenommen. Mit den entsprechenden Folgen ab dem Moment, da man sich in einem sozialistischen Staat befindet, der das Recht auf Tod oder Eliminierung oder das Recht auf Ausgrenzung ausübt. So stößt man ganz von selbst auf Rassismus – nicht den eigentlich ethischen Rassismus, sondern den Rassismus evolutionären Typs, den biologischen Rassismus, der in den sozialistischen Staaten (vom Typus Sowjetunion) hinsichtlich der Geisteskranken, Kriminellen, politischen Gegner usw. auf Hochtouren läuft. Soweit zum Staat.
Was mir aber auch interessant erscheint und lange Zeit Probleme bereitet hat, ist erneut die Tatsache, daß man nicht nur auf der Ebene des sozialistischen Staats demselben Funktionieren des Rassismus begegnet, sondern das ganze 19. Jahrhundert über auch in den verschiedenen Formen der Analyse und des sozialistischen Plans, und immer, wie mir scheint, rund um Folgendes: Jedes Mal, wenn ein Sozialismus besonders auf der Transformation der ökonomischen Bedingungen als Prinzip der Transformation und des Übergangs des kapitalistischen Staats zum sozialistischen bestand (anders gesagt, jedes Mal, daß er das Prinzip der Transformation auf der Ebene der ökonomischen Prozesse suchte), benötigte er, wenn auch nicht unmittelbar, den Rassismus. Im Gegenteil, in all jenen Momenten, da der Sozialismus gezwungen war, auf dem Problem des Kampfes, des Kampfes gegen den Feind, der Eliminierung des Gegners innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu bestehen, immer wenn es folglich darum ging, die physische Auseinandersetzung mit dem Klassenfeind der kapitalistischen Gesellschaft zu denken, tauchte der Rassismus auf, da er für ein sozialistisches Denken, das trotz allem den Themen der Bio–Macht sehr verbunden blieb, den einzig möglichen Vorwand zur Tötung des Gegners abgeben konnte. Wenn es nur darum geht, ihn ökonomisch zu eliminieren, ihm seine Privilegien zu nehmen, braucht man keinen Rassismus. Aber sobald es darum geht, sich vorzustellen, daß man ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht und sich mit ihm physisch schlagen, sein eigenes Leben riskieren und ihn zu töten versuchen muß, bedarf es des Rassismus.
Jedes Mal, wenn Sie diese Sozialismen, diese Formen des Sozialismus, diese Momente des Sozialismus haben, die das Problem des Kampfes betonen, haben Sie folglich Rassismus. Die rassistischsten Formen des Sozialismus waren der Blanquismus, die Commune und der Anarchismus, viel stärker als die Sozialdemokratie, viel stärker als die Zweite Internationale und als der Marxismus selbst. Der sozialistische Rassismus wurde in Europa erst Ende des 19. Jahrhunderts liquidiert, einerseits durch die Herrschaft einer Sozialdemokratie (man muß sagen, durch mit dieser Sozialdemokratie verbundene Reformbestrebungen), andererseits durch bestimmte Prozesse wie der Dreyfußaffäre in Frankreich. Aber vor der Dreyfußaffäre waren alle Sozialisten, zumindest die Sozialisten in ihrer überwiegenden Mehrheit, fundamental rassistisch. Und ich denke, daß sie insofern rassistisch waren, als sie (und damit werde ich enden) die Mechanismen der Bio-Macht, wie sie seit dem 18. Jahrhundert von Gesellschaft und Staat entwickelt wurden, nicht richtig eingeschätzt haben – oder sie, wenn Sie so wollen, als etwas Selbstverständliches hingenommen haben. Wie kann man aber eine Bio-Macht funktionieren lassen und zugleich Kriegsrechte verhängen, Rechte auf Mord und die Funktion des Todes, wenn man sich nicht des Rassismus bedient? Das war das Problem, und ich denke, es ist nach wir vor das Problem.
(Diese Vorlesung Foucaults ist bereits erschienen in: Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), aus dem Französischen von Michaela Ott, Frankfurt/M. 1999, S. 276-305 und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages. Informationen zu diesem Band gibt es in unserer Bücher-Sektion.)
Anmerkungen
[1] Zur Frage der Disziplinartechnologie, siehe M. Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1979.
[2] Zu all diesen Fragen, siehe Vorlesung am Collège de France in den Jahren 1973-74, Le Pouvoir psychiatrique, erscheint demnächst.
[3] M. Foucault wird auf all diese Mechanismen besonders in den Vorlesungen am Collège des France aus den Jahren 1977-78, Sécurité, Territoire et Population, und 1978-1979 Naissance de la biopolitique, das demnächst erscheint, zurückkommen.
[4] M. Foucualt bezieht sich hier auf die in Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts von den Alienisten???, insbesondere von B.-A. Morel (Traité des dégénerescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine, Paris, 1857; Traité des maladies mentales, Paris, 1870), von V. Magnan (Leçons cliniques sur les maladies mentales, Paris, 1893; zu deutsch: Psychiatrische Vorlesungen, übers. v. P.J. Möbius, Leipzig, 1891-1894) und von M. Legrain (Les Dégénérés, état mental et syndromes épisodiques, Paris, 1895) ausgearbeitete Theorie. Diese Theorie der Degeneration, die auf dem Prinzip der Übertragbarkeit des »erblich« genannten Makels basiert, war der Kern des medizinischen Wissens über Verrücktheit und Anormalität in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sehr bald von der legalen Medizin aufgegriffen, hatte sie beträchtliche Auswirkungen auf die eugenischen Doktrinen und Praktiken und hat die gesamte Literatur, Kriminalogie und Anthropologie beeinflußt.
[5] Ab dem 19. März hat Hitler Vorkehrungen zur Zerstörung der logistischen Infrastruktur und der Industrieanlagen Deutschlands getroffen. Diese Vorkehrungen werden in zwei Dekreten vom 30. März und 7. April verkündet. Zu diesen Dekreten, vgl. A. Speer, Erinnerungen, Berlin, 1968. Foucault ha